Erfahrungsbericht von der Schreibgrenze


Dürfen Journalisten eigentlich alles, was sie können? 
Gerade mein experimentelles Boulevardintermezzo kurz nach dem Studium hat mich tagtäglich mit medienethischen Fragen konfrontiert. Was davon blieb, ist die Faszination für jene grauen Grenzbereiche, die sich irgendwo zwischen Investigation, Konkurrenzdenken, Jagdinstinkt und Selbstüberschätzung bei jeder Geschichte und bei jedem Journalisten neu ziehen lassen. 

Eine Grenzüberschreitung ganz anderer Art durfte ich mit 21 jungen JournalistInnen aus mehreren europäischen Ländern in den vergangenen Monaten erleben: Als Teilnehmerin beim „Close-Up 2014“ des Maximilian-Kolbe-Werks lernte ich mehrere Zeitzeugen und KZ-Überlebende kennen. Ich hatte die Gelegenheit, jene heute 80-95-jährigen Männer und Frauen intensiv über die traumatischsten Erlebnisse ihres Lebens zu befragen, mit ihnen über das Leben nach dem Holocaust zu sprechen und über ihre Ansichten zu Schuld, Strafe und Verantwortung zu diskutieren. 
Zeitzeugen und JournalistInnen besichtigen das KZ Sachsenhausen (D)
 
Besonders waren aber nicht nur die Menschen, sondern auch die Orte an denen wir sie trafen: Die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und Sachsenhausen  - Dort, wo Millionen Menschen getötet, gefoltert und misshandelt wurden und deren Asche noch heute liegt. 

Nackte Frauen auf dem Weg zur Erschießung & Verbrennung, Auschwitz-Birkenau

Die Grenzen bestehen bei Projekten wie diesem nicht nur in der persönlichen Belastbarkeit. Natürlich empfand ich Empathie, Sympathie, Wut, Trauer - und das alles oft innerhalb eines Vortrages. Die große Herausforderung bestand vor allem in dem Spagat zwischen den Rollen des "Zeitzeugen der Zeitzeugen" und des Journalisten. 

"Auf der Jagd ... in Auschwitz", titelt Jens Twiehaus in seinem Artikel über die Selbsterfahrung während des Projektes. Anne-Sophie Lang, eine weitere Teilnehmerin, hat es in ihrem Beitrag für den WDR als "Lebensschule statt Journalistenschule" bezeichnet.

Jacek Zieliniewicz, Auschwitz-Überlebender führt uns durch das Lager


Selbst mit etwas Abstand fällt es mir schwer, einen Blogeintrag über dieses Projekt zu schreiben. Mit dem Wortmangel hatte ich bereits am ersten Projekttag im Januar zu kämpfen (Siehe Blogeintrag). Und er hat sich auch bis zum letzten Tag im März  (Siehe Blogeintrag) nicht gebessert.
"Für mich ist es Fluch und Segen zugleich, Journalist zu sein. Uns wird hier die Chance geboten, mit Zeitzeugen zu sprechen - das ist ein großes Privileg. Gerade in Auschwitz zeigt sich aber die Kehrseite des Berufes: Wir müssen wirklich zu allem Worte finden. Selten habe ich so sehr die Herausforderung gespürt, dem Menschen und der Geschichte gerecht zu werden.", zieht Christopher Ophoven Bilanz.



Es sind Geschichten, die eben alles andere als bloße Geschichten sind. Ihre grausame Realität lässt mich auf den sorgsam strukturierten Fragenzettel vor mir vergessen, auf die Headlines und Wünsche der Redaktion. Ich traue mich manchmal nicht einmal zu unterbrechen. Es erscheint mir unpassend und respektlos. Selbst, wenn die Antwort weit entfernt von der gestellten Fragen liegt. Und danach, nach all den Interviews, Gesprächen, persönlichen Begegnungen und distanzierteren Analysen, nach Unmengen an Fotos, gesammelten Fakten über Ghettos, Lager und Menschenvernichtung; nach mehreren Tonaufnahmen, Notizblöcken und Denkpausen sitze ich erst recht wieder vor der scheinbar unlösbaren Aufgabe, vom Unbeschreiblichen zu berichten, das Gehörte einzuordnen und schließlich eine Geschichte zu produzieren. Mehr denn je erscheinen die eigenen Sätze als bloße Konstruktionen, als verzerrte Realität. Und nahe über diesem inneren Zwist schweben viele Fragezeichen wie spitze, kleine Damokles-Schwerter herum...

27. Jänner, Befreiungstag der Lager Auschwitz-Birkenau
 
Gedenken via Live-Wall

Kranzniederlegung

Auschwitz-Überlebende reisen am Jahrestag zur Gedenkstätte an

Ob bei der Fotoauswahl, dem Finden eines Aufhängers, der Kürzung von Zitaten -  Im Raum steht immer auch die Frage der Verantwortung, für deren Reflexion im Alltag aber zu wenig Zeit ist. Bin ich als Journalist eigentlich dazu verpflichtet an den Holocaust zu erinnern? Soll ich mich auch abseits von Jahrestagen und Nazi-Prozessen mit diesen komplexen Themen auseinandersetzen? Und mit welchen Argumenten bringe ich diese Themen in den Redaktionen vor? 

Julia Hahn, Journalistin aus Berlin, hat ihre Redaktion überzeugt und für den Deutschlandfunk eine beeindruckende Reportage produziert, in der sie fragt: Wie konserviert man Erinnerung?
Das sind brandaktuelle Fragen, die auch abseits der Jubiläen funktionieren und in den Medien ihren Platz finden (sollten).





Randnotiz: Ich habe auf Anfrage der Deutschen Allgemeinen Zeitung in Almaty einen Artikel in Auschwitz geschrieben. Wer sich für meine Perspektive interessiert, findet den Artikel "Gesichter aus einer anderen Welt" hier.

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