Auschwitz: Wo ich mir selbst begegnet bin

Am 27. Januar 1945 wurden die Häftlinge des KZ Auschwitz-Birkenau befreit. Drei Jahre ist es her, dass ich beim Gedenktag vor Ort war. Im Rahmen des journalistischen Zeitzeugen-Projektes "Nahaufnahme 2014" des Maximilian-Kolbe-Werks hatte ich damals die einmalige Chance, mit Überlebenden des Vernichtungslagers zu sprechen. Kein anderes Interview, das ich seither gemacht habe, hat mich so erstarrt zurückgelassen. Kein anderer Ort, den ich seither besucht habe, wirkt so nach wie Auschwitz. Zum Gedenktag an die Befreiung möchte ich hier Ausschnitte meiner damaligen Blogbeiträge posten. Ich bin mit der Intention dorthin gefahren, Überlebende und die Gedenkstätten der KZs kennenzulernen. Im Rückblick betrachtet bin ich mir vor allem aber selbst begegnet - als Journalistin, Geschichte-Studentin, Nachkomme und Mensch.


22. Januar 2014, 23:00 Uhr, Oswiecim, Polen

"Es sollte ein Fazit des Abends werden, ein erster Eindruck der „Nahaufnahme 2014“ – Geworden ist es weder ein durchdachtes Resümee noch eine reflektierte Einschätzung. Dafür ein paar Gedankenfetzen, viele Fragen und wenige Antworten. Kurz: All das, was einen Schreiberling spätabends an die Tasten zwingt… Warum sind wir hier? Was motiviert uns, eine Woche in Auschwitz zu verbringen? Sind wir hier, um über das Unsagbare zu berichten, bei dem Unaussprechlichen nachzuhaken und all das Unverdaute wiederzukäuen? 
Blick durch die gefrorenen Fenster des Wachturms auf die Baracken im KZ Auschwitz-Birkenau (c)D.Neubacher, 2014


Ich merke schon am ersten Tag: Die Sprache selbst ist mir dabei keine Hilfe. Sie behindert mich. Wir sind hier, um Zeitzeugen zu interviewen. Doch sie sprechen ihre eigene Sprache. Ihre Fremdsprache heißt allerdings nicht Polnisch oder Russisch. Sie hat hinter Stacheldraht gelebt, in Holzbaracken gehaust, das Unbeschreibliche gesehen. Sie kann keine Worte haben. Sie muss versagen. Selbst hier in Auschwitz erreicht sie mich nicht. Und meine? Die Sprache meiner Mutter ist die der Täter, ist die der Schuld, der Verdränger und Zweifler. Besonders an diesem Ort bleibt sie im Kopf stecken. Sie taumelt an den Tasten vorbei. Und bereits bei meiner ersten Begegnung hier zeigt sie mir ihre widersprüchliche Seite: Ein junger Pole bemerkt bei meiner Ankunft meine Orientierungslosigkeit. Er spricht fließend Englisch und begleitet mich zum Museum, führt mich über das Areal. Sogar das Plaudern fühlt sich hier anders an. Eine Einbildung der Fremden? - Ja, er kenne das Zentrum, wo ich hin muss, meint er. Es liege an seiner Laufstrecke. Die Banalität des Alltags, denke ich, muss es auch in Auschwitz geben. „Ich bin hier geboren. Ich bin hier schon tausendmal vorbeigegangen. Das ist eben Geschichte“, erzählt er im Gehen. Jetzt müssen sie erst recht raus, die Fragen: Wie fühle es sich an, in „Auschwitz“ zu leben? Wie reagieren Ausländer, wenn man erzählt, woher man stammt? Das Schmunzeln meines Gegenübers verrät: Ich bin nicht die erste, die das fragt. Also antwortet er ohne Bedenkzeit, blickt mich dabei aber nicht an: „Wir sagen hier ja nicht, dass wir aus Auschwitz sind. Wir kommen aus Oswiecim.“ Jetzt schmunzle ich und gehe weiter, verabschiede mich beim Museum. Und doch lässt mich diese Antwort nicht los. 

Wir Deutsche bzw. wir Deutschsprachigen haben „Auschwitz“ geschaffen. Das Wort gehört uns, mit all seinen Bildern und Konnotationen. Und Oscwiecim? Das gehört wohl dann den Polen, die hier leben. Der Unterschied steckt in der Fremdsprache. Und deshalb erreicht sie mich nicht. Die Sprache liegt dahinten im Lager. 
„Nichts stimmt, aber alles ist wahr“ - Herta Müller"

Zur Projektdokumentation "Nahaufnahme 2014" (issuu.com)

"Wir kennen uns von Ausschwitz"

Fotogalerie in der Gedenkstätte des KZ Auschwitz-Birkenau. (c)D.Neubacher, 2014



Wenige Wochen später das Wiedersehen in Oranienburg, wo wir das KZ Sachsenhausen besuchten. Am Abend notierte ich meine Selbst- und Fremdbeobachtungen. Es war einer der seltsamsten Momente der Verbundenheit.


"Nach dem Interview hat sie mich umarmt. Hat sich festgeklammert und geweint. Wir sind Rettungsringe ihrer Erinnerung. Sie tut es für mich, hat sie gesagt. Junge JournalistInnen schwimmen zwischen den Sätzen, schlucken und nicken dazu. 

An diesem Abend lachen wir wieder. Lauter als sonst. Wir unterhalten uns darüber. Mit etwas Abstand will man meinen, sitzen wir - mit Hausschuhen an den Füßen, Wein im Glas, Touchscreen in den Händen, das Lächeln auf den Lippen – wieder zusammen und lachen. Unsere Pointen sind aufgezogene Vorhänge. Wir öffnen sie und schreien hinaus. Verschiedene Herkunftsländer, Ansichten, Muttersprachen. Unsere verbindende Sprache ist Englisch, doch in den Witzen blitzt das Deutsche durch. Schwarzer Humor. Schmunzeln über das Schild „Anschlussraum“ an der Tür, das „Lager“-Schild am Hotel-Gang. 

Es ist ein Zurückkommen zu einem gemeinsamen Blick auf diese Wörter. Wir lachen darüber und kramen alte Gesprächsfetzen hervor. Wir knüpfen neue daran an. Es ist ein einzigartiges Wiedersehen, denn wir kennen uns von Auschwitz." (März 2014, Oranienburg, Deutschland)



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