Was uns bewegt während sie warten

Die Paradoxie dieser Welt zeigt sich im Detail. In diesem Fall in der Bierfahne eines grölenden Endzwanzigers. Der hat sich jetzt mit einigen Artgenossen auf dem Gang eines ÖBB-Waggons breit gemacht und schimpft lautstark über "das Pack aus Syrien". Damit verarbeitet er vermutlich seine Eindrücke am Weg zwischen Stadion und Bahnsteig. Sein Trikot lässt jedenfalls auf den Anlass seines Alkoholpegels schließen.

Nun werden seine Schimpftiraden von kurzen, eingängigen Passagen unterbrochen. "Atemlos durch die Nacht" und "die Hände zum Himmel". Offenbar kennen auch seine Kollegen den Text. Eine Jugendliche verdreht die Augen und drückt die Kopfhörer enger an ihre Ohren. In das Konzert mischt sich langsam der Ärger der Fahrgäste. Ich wühle derweil in meiner Tasche und suche hungrig nach den restlichen Müsliriegeln. Normalerweise lassen mich alltägliche Konflikte wie diese nur schmunzeln. 

Alles noch kein Grund zur Aufregung für den an Störungen gewöhnten Bahnfahrer. Paradox wird die genannte Bierfahne erst durch ihren Kontext. In diesem Fall, also an diesem Bahnhof, ist der die Präsenz einer anderen Gruppe junger Männer, die nicht grölen und auch nicht betrunken sind. Sie sitzen draußen am windigen Bahnsteig eng zusammen und warten. Sie sind Flüchtlinge. Das ist in diesen Tagen leicht zu erkennen. Weil ich nicht danach frage, bleiben sie für mich namenlos. Also gehe ich in Gedanken an ihnen vorbei, steige in den Railjet und suche meinen reservierten Sitzplatz. Erst die übel riechende Fahnenspitze holt mich aus meiner gedankenlosen Routine in die Realität zurück. 

Es ist kein Mitleid, das mich dann überkommt. Auch kein Hass auf betrunkene Trikot-Träger. Es ist einfach einer dieser Momente, in denen sich das bloße Unverständnis gegenüber der Paradoxie dieser Welt in der Magengrube ausbreitet und einfach nicht verschwinden will. 

Unverständnis gegenüber der Tatsache, dass betrunkene Störenfriede einen Waggon terrorisieren dürfen während Flüchtlinge am Bahnsteig frieren müssen. Gegenüber alledem, was zu diesen Paradoxien führt. Unverständnis gegenüber dem, was wir als Zivilisation bezeichnen, und was uns in Wahrheit immer mehr voneinander entfernt. Ticketsysteme, Fahrscheinkontrollen, zwischenstaatliche Abkommen und die Tatsache, dass ich in meiner Tasche eine Karte habe, die mir erlaubt alles zu essen was ich will und eine Karte mit der ich hinfahren kann wo ich will. Der Zufall und zwei Karten entscheiden also, wer ich sein und was ich tun kann.

Ja, die Welt ist komplizierter. Und ein von Müdigkeit und Ärger angetriebener Text vermag dem nicht gerecht zu werden. Den Widerspruch zu erkennen, lässt ihn noch nicht kleiner werden. Menschlichkeit zeigt sich eben auch im Detail. Zum Beispiel durch Fahrscheine, Abkommen und verschenkten Müsliriegeln. Oder auch nur in ein paar verärgerten Zeilen in einem Zug.  

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