Merkel-Besuch in Ungarn: Zivilgesellschaft gerät weiter ins Hintertreffen

Anders als bei der Demo am Vorabend sind am Montag nur ein paar hundert Menschen gekommen. Der ein oder andere trägt eine Europafahne mit sich. Auch vereinzelte, bereits von vorigen Demos bekannte, Transparente sind zu sehen. Doch die üblichen Sprechchöre scheinen heute gedämpfter als sonst. Womöglich liegt das an der eisigen Kälte, wohl eher an der Uhrzeit: Es ist Montagnachmittag - nicht unbedingt "Demozeit". Doch in den späteren Abendstunden befindet sich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel wieder auf ihren Weg zurück. Nur wenige Stunden ist sie zu Besuch in Ungarn. (Hintergründe nachzulesen zB auf Carnegie Europe).  Im Zentrum der ungarischen Hauptstadt herrscht heute jedenfalls große Aufregung. 


Nur ein paar Schaulustige und vereinzelte Demonstranten haben sich eine Stunde vor Eintreffen der Delegation am Uni-Vorplatz versammelt.Seit Wochen berichten hiesige regierungsnahe wie -kritische Medien über den Besuch. Schon am Vortag mussten unzählige Autos von den großräumig abgeriegelten Straßen und Gassen weichen, um der Kanzlerin Platz zu machen. Polizeihunde schnüffeln im Park nebenan nach potentiellen Bedrohungen. Es ist der erste Besuch Merkels in Ungarn seit Orbáns Amtsantritt. 

Über dem Areal rund um die deutschsprachige Andrássy Universität (am Bild das benachbarte Nationalmuseum), wo Merkel eine geschlossene Veranstaltung besucht, kreisen zwei Helikopter. 

Ein paar Demonstranten warten am Uni-Vorplatz auf die deutsche Kanzlerin. Sie wollen der Kanzlerin zeigen, dass sie sich einen ungarischen Kurswechsel wünschen - pro Europa. Hintergrund der oppositionellen Kritik ist Orbáns Politik der "Ostöffnung", die ein wirtschaftliche wie politische Annäherung zu östlichen Partnerländern, allen voran Russland, forciert. Die Hintergründe zur asiatischen Annäherung Ungarns gibt's u.a. hier nachzulesen (medium.com). Die Demonstranten werden schließlich von der Exekutive höflich aber bestimmt vom Uni-Vorplatz vertrieben.


Eigentlich hätte an diesem Platz eine Kundgebung der regierungskritischen Bewegung „Most Mi!“ („Jetzt wir!“) stattfinden sollen. Wegen angeblicher Terrorgefahr wurde diese aber, zum Ärger vieler, von der Anti-Terroreinheit TÉK kurzfristig untersagt. Und so machen sich die Vertriebenen auf in Richtung Szabó Ervin Tér, vor der gleichnamigen Bibliothek des berühmten Schriftstellers, wohin die Kundgebung wenige Stunden zuvor verschoben wurde.

  
 

Gemischtes Publikum - nicht jeder möchte sich fotografieren lassen.



Wie schon auf vorherigen Demos zeugen viele Transparente von Putin-Orbán-Vergleichen. Ungarns Finanzierungs-Deal mit Russland für den Ausbau seiner Atomenergie bildet dabei einen zentralen Kritikpunkt - Mehr Hintergründe zum Paks-Deal mit Russland (ft.com).
Als 17-Jähriger wurde Paetzke, damals Schüler in Leipzig, von allen DDR-Gymnasien verwiesen. Wegen "Verunglimpfung des Staatsoberhauptes". Später folgten weitere Repressionen, sogar eine Gefängnisstrafe wegen Wehrdienstverweigerung. 1968 ging Paetzke nach Ungarn, und arbeitete als Übersetzer und Schriftsteller. Für seine kritische Haltung wurde er einst zur „persona non grata“ in der DDR sowie in Ungarn erklärt. Heute, ein Viertel Jahrhundert nach der Wende zeigt er sich von der jetzigen Regierung enttäuscht, nennt ihr Verhalten eine „Salamitaktik“ und spricht von einer „traurigen ungarischen Wirklichkeit“. 





Nach Paetzkes Vortrag kommt eine Gruppe von Frauen auf die Bühne. Gemeinsam stimmen sie Schuberts „Die Forelle“ an.
„Ein Fischer mit der Rute
Wohl an dem Ufer stand,
Und sah’s mit kaltem Blute,
Wie sich das Fischlein wand“


so lautet der Text im Deutschen . Bedeutungsvolle Worte für die Menschen heute an diesem kalten Februartag in Budapest. Steht die Forelle hier als Sinnbild für die oppositionelle Haltung vieler Ungarn? Und, wenn ja, wann tritt die Zivilgesellschaft endlich aus ihrer Opfer-Rolle des "Gejagten" heraus? Dass der Ruf nach Intervention aus Brüssel oder Berlin nicht reichen würde, wissen auch die MostMi!-InitiatorInnen. András Lang meinte kürzlich in einem Interview  mit der Budapester Zeitung: "Schon bei der De­monstration am 2. Januar haben wir die Menschen dazu aufgefordert, selbst aktiv zu werden. Wir können einfach keinen neuen Propheten oder Gyurcsány oder Orbán oder wen auch immer aus dem Hut zaubern, der dann alles löst. Die Strukturen in Ungarn sind so aufgebaut, dass jeder immer nur seinen eigenen Vorteil sieht. Da­von müssen wir wegkommen."




Schließlich zieht die Kanzlerin weiter in Richtung Synagoge — zum nächsten Termin. Während hier am Szabó Ervin Platz noch die verheißungsvollen  letzten Schubert-Zeilen gesungen werden(wav).

„So lang dem Wasser Helle,
So dacht ich, nicht gebricht,
So fängt er die Forelle
Mit seiner Angel nicht.“


Nächste Station: Synagoge. Immer der Kanzlerin nach.

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