"So schnell sind wir zu Extremisten geworden"

Bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai ist es nicht mehr lange hin. Während man hierzulande den Europäischen Gedanken gern durch Skepsis und Misstrauen verdrängt, kämpfen an den Rändern Europas die Menschen für eine Zukunft des Landes, die eng mit seinen westlichen Partnern verbunden sein soll. "Ukrainians do not expect EU to resolve Ukraine’s domestic issues. But using the means available at the hands of the EU governments (visa bans, accounts freeze, annulations of visa-free travel for holders of diplomatic and service passports, annulations of privileges of companies linked to the regime) will be the most adequate EU’s reaction", schrieb die NGO "Internews Ukraine" kürzlich über die jüngsten Entwicklungen. Nur, wenn auch Druck von außerhalb komme, würde Janukowytsch zurücktreten. Anbei möchte ich auch den Offenen Brief des Schriftstellers Jurij Andruchowytsch anführen. Er ist einer der wichtigsten intellektuellen Stimmen in der Ukraine.*

Offener Brief von Jurij Andruchowytsch an alle Europäer,

"Liebe Freunde,
und vor allem liebe Journalisten und Presseredakteure im Ausland. In
diesen Tagen erhalte ich von euch sehr viele Fragen und Bitten, die
aktuelle Situation in Kyiw und in der Ukraine im allgemeinen
darzustellen und nach Möglichkeit eigene Zukunftsvision mindestens
für die nächste Zeit zu formulieren. Da ich einfach nicht im Stande
bin, an jede von euren Zeitschriften einen ausführlichen analytischen
Beitrag zu verfassen, habe ich beschlossen, mich kurz an euch zu
wenden, damit jeder von euch die Informationen hier je nach dem
Bedarf verwenden kann.

J. Andruchowytsch

Die FAZ bezeichnete Andruchowytsch als ""wichtigsten intellektuellen Botschafter" der Ukraine
  (Bild: flickr.com, Heinrich Böll Stiftung)


















Die wichtigsten Informationen, die ich hier mitzuteilen habe, sind
folgende. In nicht einmal vier Jahren seiner Amtszeit hat
Janukowytsch die Situation im Staat und in der ukrainischen
Gesellschaft bis zum äußersten Spannungsgrad zugespitzt. Noch
schlimmer -- er hat sich selber in eine Sackgasse getrieben, da er in
dieser Situation ewig an der Macht bleiben soll und auch seine Macht
mit jeglichen Mitteln aufrechterhalten will. Sonst beginnt für ihn
eine rigorose kriminelle Verantwortung. Die Ausmaße von Diebstahl und
Unterdrückung übersteigen alle Vorstellungen von menschlicher Gier.
Die einzige seit über zwei Monaten von dem Regime angewendete Antwort
auf die friedlichen Proteste ist die eskalierende Gewalt, die man als
eine Art "kombinierte" Gewalt bezeichnen kann: einerseits erfolgen
Angriffe der Polizeieinheiten auf den Majdan, andererseits werden
oppositionelle Aktivisten und die einfachen Teilnehmer der
Protestaktionen einzeln verfolgt (Beschattung, Prügeln, Anzünden von
Autos und Häusern, Einbrüche in Wohnungen, Verhaftungen, Rollbände
der Gerichtsprozesse).

Einschüchterung wird zum Schlüsselwort.
Da die
Einschüchterungen keine Wirkung zeigen und die Menschen immer
zahlreicher protestieren, greift die Regierung zu immer brutaleren
Repressalien. Eine gesetzliche Basis für die Repressalien wurde am
16. Januar geschaffen, als die vom Präsidenten voll und ganz
abhängigen Abgeordneten mit allen erdenklichen Reglements-,
Tagesordnungs- , Abstimmungsprozedur- und Grundgesetzverletzungen mit
dem Händeheben (!) höchstens paar Minuten lang (!) eine ganze Reihe
von Gesetzesänderungen verabschiedet haben, die das Land mit
Sicherheit in eine Diktatur und einen Ausnahmezustand führen, auch
wenn der Ausnahmezustand gar nicht verhängt wird. Während ich, um nur
ein Beispiel anzuführen, diese Zeilen schreibe und weiterleite, kann
ich gleich nach mehreren Artikeln vor Gericht erscheinen: für
"Verleumdung", "Aufwiegeln" u.ä.

Mit einem Wort: werden diese "Gesetze" anerkannt, kann jeder
behaupten, in der Ukraine sei alles verboten, was durch die Regierung
nicht erlaubt ist. Und die Regierung gibt ihr Erlaubnis nur für das
Eine: den unbedingten Gehorsam der Regierung gegenüber.
Die ukrainische Gesellschaft konnte sich mit solchen "Gesetzen" nicht
zufrieden geben, deshalb begannen schon wieder am 19. Januar die
Massenproteste, in denen es um die Zukunft des Landes geht.
Heute kann man in TV-Nachrichten aus Kyiw Protestierende in
unterschiedlichsten Helmen und in Gesichtsschutzmasken sehen,
manchmal halten sie Holzknüppel in den Händen. Sie dürfen nicht
glauben, dass Sie "Extremisten", "Provokateure" oder "Rechtsradikale"
vor sich haben. Sowohl ich wie auch alle meine Freunde erscheinen nun
zu den Kundgebungen in solcher Ausrüstung. So schnell sind wir --
ich, meine Frau, meine Tochter, meine Freunde -- zu Extremisten
geworden.
Wir haben keinen anderen Ausweg, unser Leben und unsere
Gesundheit zu verteidigen. Auf uns zielen die Kämpfer der
Polizeieinheiten, unsere Freunde werden von ihren Scharfschützen
getötet. Die Zahl der Protestierenden, die allein im
Regierungsviertel in den letzten zwei Tagen getötet wurden, beträgt
nach unterschiedlichen Angaben zwischen 5 und 7 Personen. Die
Verschollenen in ganz Kyiw zählt man bereits in Dutzenden. Wir können
mit den Protesten nicht aufhören, weil das bedeuten würde, wir nehmen
unser Land als ein lebenslanges Gefängnis in Kauf. Die jungen
Ukrainer, die postsowjetischen Generationen, vertragen keine Diktatur
mehr. Wenn die Diktatur siegt, muss Europa mit der Perspektive
rechnen, ein Land wie Nordkorea an der europäischen Ostgrenze zu
bekommen. Außerdem wird das für Europa eine Flut von Flüchtlingen
zwischen 5 und 10 Millionen bedeuten.
Ich möchte niemanden
erschrecken. Unsere Revolution ist die Revolution der Jugend. Und
diesen nicht erklärten Krieg führt die Regierung vor allem gegen die
Jugend. Mit der nächtlichen Dunkelheit erscheinen auf den Kyiwer
Straßen undefinierte Menschengruppen "in Zivil". Sie machen
hauptsächlich Jagd auf die jungen Menschen, die kleine Abzeichen oder
Markierungen des Majdans oder der EU tragen. Die Jugendlichen werden
gefasst, in Wälder gebracht, nackt ausgezogen und im harten Frost
gefoltert. Ist es Zufall, dass junge Künstler-- Theaterdarsteller,
Maler, Dichter -- auffallend oft Opfer dieser Überfälle werden? Man
gewinnt den Eindruck, dass im Lande etwas wie "Todesschwadrone"
walten, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Besten auszurotten.
Und noch ein bemerkenswertes Detail: in den Kyiwer Krankenhäusern
werden den protestierenden Verletzten Polizeifallen gestellt. Die
Protestierenden (ich muss das noch einmal betonen: die verletzten
Protestierenden!) werden in Krankenhäusern gefasst und zu Verhören an
unbekannte Orte gebracht. Sogar für die zufälligen Opfer einer
Polizeigranate ist es gefährlich geworden, einen Arzt aufzusuchen.
Die Ärzte zucken die Achseln und liefern ihre Patienten den
sogenannten "Rechtsschützern" aus.

Zusammenfassend möchte ich sagen: in der Ukraine geschehen massenhaft
Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und die Verantwortung für die
Verbrechen trägt die jetzige Staatsmacht. Wenn man hier von
Extremisten spricht, kann das nur auf die Staatsmacht zutreffen.
Und nun zu den beiden traditionell kompliziertesten Fragen: ich weiß
nicht, was weiter geschieht, so wie ich nicht weiß, was Sie heute für
uns tun könne. Sie können immerhin diesen Artikel hier weiterleiten
und publizieren. Was noch? -- Seid in Gedanken bei uns. Denkt an uns.
Wir werden auf jeden Fall siegen, wie grausam die da auch vorgehen
mögen. Die Ukrainer verteidigen heute buchstäblich mit eigenem Blut
die europäischen Werte einer freien und gerechten Gesellschaft. Und
meine Hoffnung besteht darin, dass Sie das zu schätzen wissen."


Quelle: Mailing-Liste "JOE" (Junge Osteuropa Experten), 31.1.2014
*Hervorhebungen und Absätze nachträglich hinzugefügt

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