Die unfassbare Nation: Warum eine genaue Definition der ÖsterreicherInnen scheitern muss und soll

 *Manuskript meines Vortrages vom 23.2.2022, Universität La Réunion/St. Denis.

 


Einleitung

In vielerlei Hinsicht ist La Réunion fremd für mich. Wir befinden uns hier 8.610 Kilometer Luftlinie entfernt von Wien. Ganz offensichtlich trennt uns das Klima, die Geschichte, in mancher Hinsicht auch die Kultur und in den meisten Fällen auch die Muttersprache. Doch es gibt eine Gemeinsamkeit: Obwohl La Réunion vom indischen Ozean umgeben ist, und Österreich ein Binnenland ist, wird mein Heimatland gern auch als Insel bezeichnet. Genauer gesagt, als eine Insel der Seligen. Selig bedeutet so viel wie von allen irdischen Übeln erlöst. Dieser Ausspruch ist mir bei der Vorbereitung für heute eingefallen. Das Bild kommt ursprünglich aus dem Griechischen Elysion. In der griechischen Mythologie beschreibt er einen Ort im äußersten Westen des Erdkreises, ein Ort ewigen Glücks, wo HeldInnen Unsterblichkeit erlangen. Vielleicht kennen Sie den Ausdruck auch von der Europa-Hymne (Ode an die Freude), in der es heißt: „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“, Elysium ist das lateinische Wort für Elysion. Wenn also Europa die Tochter eines paradiesischen Ortes ist, dann ist Österreich nach dieser Denke also eine Paradiesinsel. 

 

Die Herkunft des Ausdrucks Insel der Seligen ist nicht ganz belegt. Er geht zurück auf die Antike. Es gibt eine beliebte Anekdote, wonach Papst Johannes Paul VI. im Jahr 1971Österreich als eine glückliche Insel bezeichnet habe. Oft wird er aber dem ehemaligen österr. Bundeskanzler Bruno Kreisky zugeschrieben. Kreisky ist eine Schlüsselfigur der Zweiten Republik, was vor allem an vielen sozialen Reformen unter seiner Führung liegt. Dazu zählen etwa die 40 Stunden Woche, aber auch Errungenschaften in der Frauenpolitik und im Bereich der Schulreformen. Prägend für jene Zeit, also die 1970er Jahre, war der relativ hohe Grad an sozialem Frieden, ein Anwachsen des Mittelstandes – also ein Gefühl der sozialen und materiellen Sicherheit. Man spricht in diesem Zusammenhang oft vom sozialpartnerschaftlich organisierten Wohlfahrtsstaat und dem goldenen Nachkriegszeitalter.[1] 


Nur langsam fängt diese Fassade durch die Folgen der Wirtschaftspolitik und die Herausbildung von Sozialen Bewegungen, etwa auch der Ökologisierung, zu bröckeln an. Österreich hatte nach dem Zweiten Weltkrieg massiv von den Hilfen des Marshall Plans profitiert und erlebte vor allem nach dem Staatsvertrag von 1955 eine Zeit des ökonomischen Aufschwunges. Diese ersten Jahrzehnte nach dem Krieg stellten die Weichen für viele spätere Umbrüche und gingen auch mit Schattenseiten einher. So ging diese Zeit auch mit der einseitigen Interpretation der nationalsozialistischen Verantwortung einher.  Der gesellschaftlich anerkannte Opfermythos hielt sich trotz vieler Konflikte bis in die 1990er Jahre. 

 

Das Bild einer österreichischen Insel der Seligen ist gerade deshalb so interessant, weil diese Erzählung zu einem Mythos geworden ist, der sich bis heute hält und viel über die Konstruktion der österreichischen Nation verrät. In meinem Vortrag möchte ich eine kurze Reise in die Vergangenheit machen und darstellen, wie einfach die Grenzen zwischen Mythos, Vorstellung und Realität verschwimmen, wenn es um die Bildung der österreichischen Nation geht.  Dazu müssen wir bis zur Geburtsstunde der Ersten Republik zurückgehen und uns ansehen, in welche Familie diese neue Nation geboren wurde.

 

Geburtsstunde der Ersten Republik

Keine Historikerin würde je behaupten, dass das Land vor 100 Jahren, also im Februar 1922, eine Insel der Seligen war. Die Jahre 1918 bis 1922 sind eher als Zeit der Verwirrung, der Extreme und der Überlebenskämpfe bekannt. Österreich, oder besser gesagt die Republik Deutsch-Österreich war mit seiner Ausrufung am 12. November 1918 ein sogenannter Staat, den keiner wollte. Alle Eckpfeiler eines echten Staates wackelten bzw. waren nicht genau abgegrenzt: das politische System, das Territorium, und die gesellschaftliche Zusammengehörigkeit – auf Österreichisch würden wir sagen: Nix is fix! Also nichts war fixiert/sicher. 

 

Die Auflösung der Habsburgermonarchie erfolgte in rasender Schnelligkeit innerhalb weniger Tage Ende Oktober, Anfang November 1918. Die in Wien sitzende Regierung konnte nur hilflos dabei zusehen, wie die italienische Front militärisch zusammenbrach. Anfang November wurde Südtirol und Triest von Italien besetzt. Kaiser Karl versuchte durch sein Völkermanifest die Kontrolle zu behalten und versprach darin eine Umgestaltung des Reichs, doch in den Kronländern war der Drang nach Eigenständigkeit stärker. Die Tschechoslowakei erklärte zuerst ihre Unabhängigkeit, die Polen, Südslawen und Ungarn folgten ihrem Beispiel. Im Reichsrat, dem Parlament der cisleithanischen Reichshälfte in Wien saßen plötzlich von 516 Abgeordneten aus allen Landesteilen, darunter etwa auch der Bukowina und Dalmatiens, nur mehr 210 deutsche. Dieses Restösterreich bestand vor allem aus den deutschsprachigen Siedlungsgebieten der österreichischen Reichshälfte sowie Westungarns, das großteils später als das Bundesland Burgenland Österreich zugesprochen wurde. Der neue Staat hieß zuerst Deutschösterreich und verstand sich als Teil des Deutschen Reichs. Da dieser Anschluss mit dem Vertrag von Stain-Germain-en Laye (1919) verboten wurde, wurde wenig später daraus die Republik Österreich. Mit der Republiksgründung am 12. November 1918 endete – trotz unterschiedlicher Ansichten unter den Christlichsozialen - auch die Staatsform der Monarchie. Im Februar 1919 fand dann die erste Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung statt, bei der erstmals auch alle Frauen wahlberechtigt waren. Aufgabe dieser neuen Versammlung war die Ausarbeitung einer neuen Verfassung.

 

Österreich galt vielen nach dem Verlust eines Großteils seiner Gebiete (mit den Friedensverträgen gingen auch weitere deutschsprachige Gebiete verloren) und den damit verbundenen Ressourcen als lebensunfähig. Wien war von einem Tag auf den anderen von einer imperialen Stadt zu einem Überbleibsel geworden. Von insgesamt 6 Millionen EinwohnerInnen lebten allein 2 in Wien. Oft sprach man daher auch von einem „Wasserkopf“. Die Stadt hatte einen enormen Schuldenberg. Zugleich musste man investieren: die vielen Wohnungslosen und Zugezogenen brauchten ein Dach über dem Kopf, soziale Unterstützungen und Bildungseinrichtungen. Es folgte eine Reformperiode zwischen 1918 und 1920. Dazu musste Österreich enorme Geldmengen von den Siegermächten leihen. Man muss sich vorstellen, was es für einen Wirtschaftsraum wie der Donaumonarchie bedeutet, wenn er plötzlich durch Grenzen getrennt wird. In der Monarchie wurde viel durch Arbeitsteilung geschaffen. Die ungarische Reichshälfte galt als Kornkammer. Die Industrie in Österreich war von den Ressourcen aus Böhmen und Polen abhängig. Nach dem Zerfall setzten teils sehr harte Blockaden ein und Österreichs Wirtschaft musste sich rasend schnell neu aufstellen. Wien war zuvor auch das Bankenzentrum der Monarchie. Mit der Nationalisierung lösten sich nicht nur viele Filialen auf, 1919 verlagerten innerhalb von wenigen Monaten auch 44 Aktiengesellschaften ihren Sitz von Österreich in die Tschechoslowakei.[2] Die Frage der Überlebensfähigkeit des neuen Staates hatte daher klare wirtschaftliche Gründe und führte in Österreich, aber auch unter den Siegermächten Sorgen über die Zukunft des kleines Landes. 

 

Die politische Kultur dieser Jahre war von starkem Populismus geprägt. Antisemitismus war weit verbreitet. Die jüdische Bevölkerung beschränkte sich hauptsächlich auf Wien. Mit einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 10,8 % waren Jüdinnen und Juden in dem stark vom Katholizismus geprägten Land in der klaren Minderheit, trotzdem verzeichneten sie die zweitgrößte Religionsgruppe. 

1920 war die deutsche Übersetzung des Buches „Die Geheimnisse der Weisen von Zion“ erschienen, in der die Behauptung aufgestellt wurde, dass das Judentum die Weltherrschaft an sich reißen wolle. Hier zeigen sich auf Referenzen zu heutigen Debatten während der Corona-Pandemie – es handelt sich also um eine sehr alte Erzählung, die auch in gegenwärtigen Verschwörungstheorien eine wesentliche Rolle spielt. Österreichs katholische Prägung war auch in vielen anderen Bereichen sichtbar. Etwa bei der Eheschließung und -scheidung. So konnten Katholiken- also die Mehrheit der Bevölkerung – keine Scheidung und Wiederverheiratung vornehmen, da eine katholische Ehe unauflöslich ´galt. Hier zeigte sich die damals unüberwindbare Kluft zwischen den säkularen Sozialdemokraten und den katholisch geprägten Christlichsozialen. Der Streit eskalierte bis zur Staatskrise, als sich der Konflikt auch auf den Verfassungsgerichtshof übertrug. Das Problem wurde absurderweise erst nach dem Anschluss Österreichs mit dem Gesetz 1938 gelöst, infolgedessen das Scheidungsrecht für alle Konfessionen galt. 


Die katholische Prägung, insbesondere aber der Antisemitismus spielte auch in anderen Fällen eine wichtige Rolle. Zum Beispiel im Kampf gegen den Wiener Zentralismus. Nach dem Zerfall der Donaumonarchie bildete die Frage, wie zentralistisch die Republik gestaltet werden sollte, eine bedeutende Konfliktlinie zwischen den politischen Kräften. Mit Blick auf einen möglichen Anschluss an Deutschland waren vor allem die Sozialdemokraten und die Deutschnationalen Befürworter des Zentralismus. Die Christlichsozialen mobilisierten trotz einer Koalitionsregierung in Wien gegen die Macht der Hauptstadt. Der Blick nach Ungarn und Bayern, wo 1919 kommunistische Räterepubliken entstanden, wurde zu einem Drohszenario. Die politische Rechte nutzte vor allem den Antisemitismus und sprach gern von der „Wiener jüdischen Sozialdemokratie“ und vom „Wiener (jüdischen) Großkapital“.[3] In den Bundesländern wurde zugleich auch militärisch aufgerüstet und sogenannte Heimwehren gegründet, um eine mögliche bolschewistische Revolution zurückzuschlagen. Hier ist es wichtig, kurz zu betonen, dass die militärische Macht in dieser Anfangszeit nicht in Wien lag, sondern sich auch entlang der politischen Lager organisierte. 1923 gründeten die Sozialdemokraten als Gegenpol zu den Heimwehren der Republikanische Schutzbund.


Schließlich sollte die erste Verfassung etwas Klarheit in den Konflikt um die Machtverteilung im Land bringen. Der Rechtswissenschaftler Hans Kelsen arbeitete intensiv an einer Verfassung und die Frage der Macht der Bundesländer verzögerte diesen Prozess. Das Ergebnis war schließlich ein Kompromiss, also ein eher schwacher Föderalismus, in dem der Bund wichtige Kompetenzen behielt. Nach einer Reform 1925 wurde die Verfassung jedoch schon weniger als ein Jahrzehnt später vom Ständestaat abgelöst. Und der Anschluss an Deutschland erklärte das föderale Grundprinzip ganz für beendet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Verfassung vom Jahr 1929 wieder zum Leben erweckt. Im Laufe der Zweiten Republik wurde der Föderalismus wieder gestärkt, doch machtpolitische Spannungen zwischen Bund und Länder gehören seit damals zum politischen Alltag in Österreich.[4]

Die Stadt Wien wurde übrigens erst mit 1. Jänner 1922 zum selbstständigen Bundesland erklärt. Hintergrund dieser Entscheidung war auch hier wieder die politische Kluft zwischen Christlichsozialen und den Sozialdemokraten. Denn im Sozialdemokratischen Wien – im Roten Wien - wollte man nicht mit der Landbevölkerung aus Niederösterreich zu viel Macht an die Christlichsozialen verlieren. In Niederösterreich fürchtete man die Ausbreitung der Sozialdemokraten aus der Hauptstadt. Diese hatten 1919 bei den ersten demokratischen Wahlen nach dem Ersten Weltkrieg die absolute Mehrheit. Seit der Trennung 1922 gab es in dem Bundesland bis heute kein sozialdemokratisches Landesoberhaupt mehr.

 

Wacklige Grundpfeiler der Nation

Was haben aber nun all diese Entwicklungen nun mit der Nationenbildung Österreichs zu tun? Dazu müssen wir erst ein wenig ausholen und uns ansehen, wie sich viele einflussreiche ÖsterreicherInnen mit diesem Staat, den keiner wollte, auseinandersetzten. Für Bruno Kreisky etwa war das mit der nationalen Identität recht simpel: Wo es eine Nationalmannschaft und eine Nationalbank gebe, dort müsse es eben auch eine Nation geben, antwortete der damalige Bundeskanzler auf die Frage nach der österreichischen Nation.[5] Dass die Thematik aber etwas komplexer ist, zeigen zahlreiche literarische, wissenschaftliche und politische Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Nation.

 

(Publikumsdiskussion: Was kennzeichnet eine Nation? Was kennzeichnet die französische Nation? Könnte La Réunion als Nation bezeichnet werden? Von welchen zeitlichen und geografischen Standorten hängt die eigene Identität ab?)

 

Klar ist, dass sich der Begriff der Nation seit den nationalstaatlichen Bewegungen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts stark verändert hat. In der Literatur tauchen hierzu Begriffe auf wie Volksnation, einer ethnisch homogenen Gruppe, und der Begriff der Kulturnation, der sich auf eine gemeinsame Sprache, Literatur und Musik bezieht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war etwa für Ungarn die Sprache ein bedeutendes Kriterium der nationalen Identität. Dies führte zur sogenannten Magyarisierung, die sich in der Repression von anderssprachigen Minderheiten äußerte, etwa in Sprachverboten in Schulen oder in Buch-Verboten. Rassisch-basierte Definitionsversuche, wie etwa die Idee der Volksnation sind seit den Folgen des Nationalsozialismus‘ für viele untragbar geworden. Auch die Beteuerung einer Kulturnation ist bei genauerer Betrachtung nicht befriedigend. Die heute in Europe vorherrschende Idee der Staatsnation wiederum bezieht sich auf die demokratische Legitimation der Herrschaft und der individuellen Gleichheitsrechte als StaatsbürgerIn.[6] Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson definierte in den 1980er Jahren vier Eigenschaften der Nation: Demnach sei sie erstens vorgestellt, das heißt, niemand könne jemals alle Zugehörigen dieser Gruppe kennen, allerdings habe jeder eine eigene Vorstellung von ihr. Zweitens sei die Nation begrenzt, so dass sie Grenzen und Abgrenzungen brauche. Drittens kennzeichne sie Souveränität, und viertens die Eigenschaft der Gemeinschaft.[7] 

Die Soziologin Nora Räthzel schrieb in den 1990er Jahren[8], dass „Elemente wie Sprache, Religion, Territorium oder Rassen“ die Nation nicht definieren könnten, „da es Nationen gibt, für die diese Elemente nicht konstitutiv sind.“  Eine Definition aus dem 19 Jahrhunder stammt von dem Französischen Gelehrten Ernest Renan, der betonte vor allem das Element der gemeinsamen Erinnerung und des täglichen Entscheidens, die Zukunft gemeinsam bestreiten zu wollen. Für Renan sei eine Nation also eine Gruppe von Leuten, die entschieden hat, zusammenleben zu wollen. Im Rückblick auf Österreichs Gründungsgeschichte ist die Gründung der Republik allerdings kein Ergebnis einer gesamtgesellschaftlichen Entscheidung. Nur wenige BewohnerInnen des damaligen Territoriums hatten nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie tatsächlich ein Mitspracherecht bei der Wahl ihrer Zugehörigkeit. Zwar stimmten etwa WählerInnen in Tirol und Salzburg für einen Anschluss an Deutschland, dieser war aber wie bereits erwähnt nicht möglich. Im Oktober 1920 stimmte Kärnten bei einer Volksabstimmung für den Verbleib in Österreich. Mit dem Zugewinn des Burgenlandes gab es nur in der Stadt Sopron/Ödenburg ein Referendum. Hier entschied sich die Bevölkerung für den Verbleib in Ungarn.


Heute stehen die Grenzen und die territoriale Souveränität sowie die Staatsform nicht mehr in Frage. Der Föderalismus hingegen – eines der Säulen der Bundesverfassung von 1920 – bietet aber auch ein Jahrhundert später immer noch Anlass zu Auseinandersetzungen. 


Mit der Errichtung des Ständestaats bekam Österreich nicht nur eine zentralistische Ordnung, sondern auch die Tradition der Habsburger wurde wieder stärker in dem Mittelpunkt gerückt. Auf der Ebene der Symbole zeigt sich das etwa durch die Wiederentdeckung des Doppeladlers im Wappen. Kurt Schuschnigg, der Nachfolger Engelbert Dollfuß‘, befürwortete die Abschaffung der Habsburgergesetze. Damit hatte man 1919 entschieden, einen Großteil des Vermögens der Familie Habsburg-Lothringen zu verstaatlichen und die Familie des Landes zu verweisen. Die Nachfolgen des letzten Kaiser Karls versuchten tatsächlich bis 1945 und selbst nach dem Zweiten Weltkrieg noch politischen Einfluss zurückzubekommen, etwa in Form einer Donauföderation unter der Führung der Habsburger. Mit dem Staatsvertrag von 1955 war dieser Plan Geschichte. Der Konflikt darüber war aber selbst Jahrzehnte später noch Grund für Krisen zwischen Roten und Schwarzen. Erst 2010 wurde das letzte Teil des Gesetzes aufgehoben und Mitglieder des Hauses Habsburg können nun theoretisch wieder zum Bundespräsidenten gewählt werden. Heute findet sich der Doppeladler vor allem auf Gebäuden wie der Hofburg oder am Burggartentor in Wien sowie auf T-Shirs, Bierkrügen und Postkarten als Souvenirs für TourstInnen wieder. Ein Professor aus Mödling bei Wien hatte sich die Sammlung zur Lebensaufgabe gemacht und insgesamt 35.000 Objekte mit dem Doppeladler-Motiv zusammengetragen. Das ist nur eines von vielen Beispielen, wie der Mythos weiterlebt.[9]

 

Land der Berge, Land am Strome

Die Frage, welche identitätsstiftenden Elemente die österreichische Nation ausmachen, füllen unzählige Bücher und Schriften. So hat etwa der Autor und Essayist Robert Menasse 1995 den Essay „Land ohne Eigenschaften“ dieser Frage gewidmet und damit auch wieder einen Bogen zur Zwischenkriegszeit gespannt. Der Titel nimmt auf Robert Musils Werk „Der Mann ohne Eigenschaften“ aus den 1930er Jahren Bezug. Darin beschäftigt sich der Autor u.a. mit dem langsamen Zerfall der Donaumonarchie. Der darin verwendete Begriff „Kakanien“ für die starren Strukturen der k.u.k. Monarchie und den inneren Spannungen zwischen der Habsburgerführung und seinen Kronländern wird auch heute noch oft im Zusammenhang mit jenen Jahren verwendet.


Für die Beantwortung der Frage, was die eigene Nation definiert, empfehle ich gerne die Methode der völlig unwissenschaftlichen Feldforschung im privaten Umfeld.  Ohne Anspruch auf Repräsentation fragte ich vor ein paar Jahren für einen Aufsatz zu diesem Thema ein paar Bekannte: Was macht dich zu einem Österreicher bzw. zu einer Österreicherin? Die Antworten reichten von der Liebe zur Landschaft, dem Essen und dem Dialekt bis hin zum Dirndl und der guten Luft.  Der Pass sei nur im Ausland wichtig, hieß es, und überhaupt: Das damit verbundene Wahlrecht und andere Staatsbürgerrechte wären weniger wichtig als Tradition, Brauchtum und Sprache. So viel zum Abgleich theoretischer Debatten mit dem Alltagsleben. In meinem Aufsatz für die Universität fragte ich damals sichtlich frustriert: Liebe Österreicherinnen und Österreicher, wollen wir uns tatsächlich nur auf Banalitäten wie Kleidungsstücke reduzieren? Gibt es abseits von Edelweiß, Gamsbart und Herrgottswinkel keine Nation? Für den Vordenker und radikalen Atheisten, Adolf Loos, war schon im Jahre 1909 das Ornament ein Verbrechen.[10] Der moderne Mensch hätte sich längst weiterentwickelt. „So ungeheuer stark ist seine Individualität, daß sie sich nicht mehr in Kleidungsstücken ausdrücken läßt.“[11] 


Offenbar war und ist Loos‘ Beobachtung mehr Wunschdenken als Realität gewesen. Natürlich könnte es auch an den durchaus unterschiedlichen privaten Umfeldern eines Kunstkritikers in Wien und einer am katholischen Land aufgewachsenen Studentin liegen. Loos hatte es mit der Zugehörigkeit zu Nationalstaaten ohnehin nicht so ernst genommen. So erhielt der im Brünn (Brno) zur Zeit der Doppelmonarchie geborene Architekt nach 1918 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft, optierte aber für Österreich und trug später beide Staatsbürgerschaften. Vor dem Krieg versuchte er auch die ungarische Staatsbürgerschaft anzunehmen, in der Hoffnung, sich so von seiner Frau Lina leichter scheiden lassen zu können.[12]


Zu den Insignien Österreichs zählten meine Befragten wie gesagt auch die Landschaft, hier vor allem die Berge, das gute Wasser und die ausgezeichnete Luft. Aber erst in Kombination würden diese Kennzeichen Österreich auszeichnen. Doch ist ihnen tatsächlich klar, dass ihr Nationalstolz anhand dieser schwammigen Definition bereits im nächsten Bundesland, ja, sogar im nächsten Tal, ein Ende haben muss? Dass etwa der Vorarlberger Dialekt in Oberösterreich unverständlich ist? Dass das Schnitzel in Graz anders schmeckt als in Bregenz? Nicht zu sprechen von den Variationen der Luft, des Wassers und der Landschaft? Offenbar sehen viele ÖsterreicherInnen im regionalen Patriotismus bereits den Inbegriff des österreichischen Nationalempfindens. 


Der "Homo Austriacus", wie der deutsch-österreichische Journalist Oliver Jeges die Österreicher einst nannte[13], hätte heutzutage wenig Grund zum Nationalstolz. „Ihre komplette Identität haben sie zusammengeklaut. Die Kultur ist deutsch, die Küche böhmisch und die Währung europäisch. Nach außen sind die Österreicher neutral wie die Schweiz, im Inneren korrupt wie Albanien." So lautet das niederschmetternde Urteil Jeges‘„Es ist diese einfache, gemütliche Heile-Welt-Zufriedenheit, die man so nur zwischen Bregenz und dem Neusiedler See findet,“ schreibt Jeges weiter. Seine zitierten Studienergebnisse machen stutzig. Wie kann eine Landschaft, die dem Reiseerfahrenen zwar schön aber doch nicht völlig einzigartig erscheint, so identitätsstiftend wirken? Wie kommt der Homo Austriacus dazu, sich mit dem österreichischen Teil des Bodensees zu identifizieren, während es ihm beim Anblick des gegenüberliegenden Ufers sämtlicher Heimatgefühle mangelt? 


Den wenigsten ÖsterreicherInnen ist bewusst, dass ihre scheinbar angeborene Naturverbundenheit bzw. Nationsverbundenheit teils auf einem Kalkül der Gründer der Zweiten Republik beruht. Robert Menasse wunderte sich in seinem Essay, dass Österreich wohl der einzige Nationalstaat sei, „dessen Nationswerdung wesentlich außenpolitische Gründe hatte. Innenpolitisch gab es keine zwingende Tendenz zur Selbstdefinition als eigene Nation.“[14] Um den heiß ersehnten Staatsvertrag zu erhalten, und nach der Besatzung der Alliierten unabhängig zu werden, war es unerlässlich, auch als Nation auf eigenen Beinen zu stehen, um auf der internationalen Bühne die Befürchtungen eines erneuten Anschlusses an Deutschland zu zerstreuen.[15]


Und so setzte die politische Elite zur Propaganda an. Man denke an Wolfgang Liebeneiners Science-Fiction Film „1. April 2000“. Eine unglaublich teure staatlich geförderte Produktion aus dem Jahr 1952.  Unschuldig und durch und durch friedfertig sei die österreichische Nation und die Mentalität der ÖsterreicherInnen, wenn es nach dem vermittelten Österreich-Bild im Film geht.[16] In der fiktiven Geschichte hat die Protagonistin einen persönlichen Verlust durch den Krieg zu verarbeiten. Thematisiert wird dieser emotionale Umgang aber nicht. So wie die Vergangenheit der Protagonistin in dem 1952 erschienen Film nicht weiter thematisiert oder verarbeitet wird, setzte sich auch Österreich in den 1950er und 1960er Jahren nicht mit den dunklen Kapiteln seiner Vergangenheit, vor allem dem Holocaust, auseinander. Im Film wie in der Realität machten sich Gedächtnislücken breit. Einerseits wurde der Fokus auf die nostalgische Vergangenheit der Habsburgermonarchie gelenkt, andererseits blickt man mit bewusst in eine Zukunft voll Vertrautem – mit Dirndln und der Heurigenkultur in Wien, mit Liebesgeschichten in der Naturidylle. Der Film war eine reaktionäre Antwort auf die emotionalen Überforderung nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch sowohl in der Fiktion als auch in der Realität ging die Strategie der Verdrängung über Überdeckung vorerst auf. Österreich erhielt mit dem Staatsvertrag 1955 sein erhofftes Happy End. Und die aufblühende Produktion von Heimatfilmen jener Jahrzehnte hat aus der kollektiven Verdrängung eine Industrie entstehen lassen, in der die Almidylle bis ins Unerträgliche ausstaffiert wurde. 


Im Hinterkopf der nationalen Impressionisten stand natürlich neben den politischen Zielen auch die Intention, Österreich als Fremdenverkehrsland attraktiv zu machen. Ab Mitte der 1950er Jahre erlebte Österreich auch einen enormen Zulauf von Touristen, anfangs im Sommer mehr als im Winter. Doch Investitionen in Skilifte, Hotels, Verkehrswege, etc. brachten zu jeder Saison den Massentourismus in das Land. Dieses erhebliche Wachstum setzte sich bis in die 1970er Jahre fort. Erfolge im Wintersport erlaubten den Österreichern nach den Erfahrungen des Krieges wieder einen gewissensreinigenden Nationalstolz. Zusätzlich tröstete die internationale Anerkennung über die alten Wunden des Bedeutungsverlustes hinweg.  Mit den Skirennläufern der späten 40er und 50er Jahre war die neue Identität der Skination geboren.  Der Grazer Historiker Christoph Eric Hack hat die Rolle des Skisports zur österreichischen Nationenbildung untersucht. Er kam zum Ergebnis, dass der Skisport den ÖsterreicherInnen "ein Stück Heimat, das historisch unbelastet war und dem Staat globale Bedeutung zukommen ließ" ermöglichte. Auch hier haben wir wieder das Verschwimmen der Grenzen zwischen Mythos und Realität. [17]


In der Zweiten Republik bekam Österreich – entgegen Menasses Buchtitel –also doch einige Eigenschaften zugeschrieben. Das Land schaffte wieder herausragende Größen – ja, manchmal beschenkt man sich bis heute einfach mit dem Verleih von Staatsbürgerschaften.  Mit den Besonderheiten einzelner Menschen, die man dadurch einfach ins nationale Kollektiv übertrug, wird die Nation zur Summe von großen Identitäten und variierenden Besonderheiten. Die Nation wird zur stets wechselnden Auswahl, eine geteilte Summe dessen Additive variieren. So wird die Nation zu einer unfassbaren Nation. So scheitert jeglicher Versuch, sich einer Definition zu nähern. Allein Beschäftigung damit gerät zum Klischee.

Und doch ist das Nationalgefühl für viele der Grundstock des National-Staates. Nora Räthzel schreibt dazu „Die Homogenität und Stabilität des nationalen Gefühls ist die Voraussetzung für einen stabilen Staat. Durch welche Faktoren diese Einheit geschmiedet wird und wer sie schmiedet, ist letztlich gleichgültig. Jedoch gibt es ohne dieses Gefühl keine Ordnung und keinen Staat.“[18]


Blicken wir noch einmal zurück auf die 1920er Jahre. Obwohl sich mit dem Zerfall der Donaumonarchie neue politischen Grenzen in Mitteleuropa gezogen wurden, spiegelte die Gesellschaft noch lange die Eigenschaften des Vielvölkerstaats wider. Viele der sogenannten Gründerväter und Intellektuellen wurden außerhalb der neuen Staatsgrenzen geboren, allen voran Karl Renner, der in Südmähren zur Welt kam. 

Umgekehrt lebten Teile der Donaumonarchie auch in den Gesellschaften hinter der neuen Grenze weiter. Etwa in der Architektur. So gibt es zwischen Lviv in der heutigen Ukraine und Bozen im heutigen Italien viele Ähnlichkeiten, etwa bei den altösterreichischen Bahnhöfen, Theatern oder Opernhäusern – ein deutsches Medium nannte es das k.u.k Corporate Design.[19]  Gerade die Mitglieder der Eliten waren es gewohnt, zwischen Budapest, Triest, Wien etc. hin und herzureisen. Ihr Verständnis war tatsächlich supranational, sagt der Historiker Christian Ortner.[20] In Österreich zeigt sich die Kontinuität auch in der Sprache. So ist heute die westukrainische Stadt Lviv immer noch eher unter dem ehemals deutschen Namen Lemberg bekannt, Gleiches gilt für Olmütz, das tschechische Olomouc, Krakau, das auf Polnisch Kraków heißt oder der Plattensee, auf Ungarisch Balaton. 

 

Österreich, eine gefühlsechte Einheit?

Die Faktoren der Einheit können von verschiedenen Seiten kommen. Besonders identitätsstiftend wirken Insignien wie Staatsflagge und Nationalhymne. Werfen wir einen Blick auf eine weitere Insignie Österreichs, die Bundeshymne. Paula Preradovićs Text der Hymne identifiziert Österreich durch seine Lage. Ein Land, um das gestritten wird, muss ja wertvoll sein. Man sieht sich im Zentrum der Aufmerksamkeit, im Herzen Europas. Nein, nicht nur im Herzen, man sieht sich als das Herz. Ohne Herz kann kein Mensch Leben, die Zukunft Österreichs müsste somit auch eng verbunden mit dem ganzen Kontinent sein. Der Mythos ist in den „Ahnentagen“ zu finden, in denen Österreich wichtige Rollen gespielt hat. Eng verbunden mit der Gläubigkeit, die in einem Vers mit Freiheit keinerlei Widerspruch zu finden vermag. Es scheint auch nicht zu überraschen, dass die inoffizielle Hymne Österreichs, das Pop-Lied Reinhard Fendrichs „I am from Austria“ in die gleichen Kerben schlägt – und vielleicht noch leichter die Emotionen anregend, aufgrund der Verwendung eines allseits verständlichen Dialektes. 


„Die hohe Zeit ist lang vorüber (…) von Ruhm und Glanz ist wenig über. Wer zieht noch den Hut vor dir außer mir?“ Mit diesen Zeilen schafft Fendrich den Bogen vom Opfermythos eines untergangenen Reiches, eines Minderwertigkeitskomplexes historischen Ausmaßes, über die kollektive Erinnerung bis hin zur heldenhaften Unerschütterlichkeit der Übriggebliebenen. Begriffe, wie „Apfel“ und „Stamm“ schmelzende Gletscher, talwärts fließendes Wasser und Blut verbinden den Mythos mit der uralten Idee des Blut-und-Boden-Gedankens. Die Nation ist so mit der Natur verbunden, angeboren, geht von Blut zu Blut über und ist so monumental, prägend und präsent wie der Gletscher und seine Täler. Patriotismus wird so zum Natur- und Nationsglauben – zum unerschütterlichen Glauben an sich selbst als etwas Besonderes im globalen Wechselspiel der Elemente. 


Die Zwischenkriegszeit hat in dieser Erzählung wenig Platz. So schreibt der österreichische Historiker und Schriftsteller Christoph Hacks: „Im Monumentalen, in der Erhabenheit der Landschaft wie in den ewigen Werken nationaler Genialität, erlebt der Kleinbürger die Größe und den Glanz, die seiner eigenen Existenz fehlen. Sein besonderes Interesse gilt der Geschichte, nicht der von 1919 bis 1945, sondern der, als Österreich noch „Größe“ hatte, als ‚wir‘ noch jemand waren. Der Habsburg-Mythos hat sich in die österreichische Seele tief eingegraben, ist heute Bestandteil des psychosozialen Volksvermögens und der dominierende Topos in der Tourismuswerbung“.[21]


Mit den sogenannten „Größen“ der Zwischenkriegszeit tut sich Österreich bis heute schwer. Steigende Arbeitslosigkeit, Inflation und Massenproteste spitzten die Konflikte in den Zwanzigerjahren merklich zu. Auf den Straßen kam es vermehrt zu Gewalt. Eine Auseinandersetzung im burgenländischen Grenzort Schattendorf endete für zwei Menschen tödlich, darunter auch ein achtjähriger Junge. Der Fall sorgte vor allem in der Parteipresse für Schlagzeilen und wurde zu einem Konflikt um Recht und Gerechtigkeit hochstilisiert.[22] Eine Protestbewegung entstand, die Demonstrationen eskalierten, und der Hass auf Justiz und Polizei stieg. Am 15. Juli 1927 wurde im Justizpalast in Wien ein Brand gelegt. 85 DemonstratnInnen wurden in den Wirren des Protests getötet. Der Autor und Zeitzeuge Elias Canetti sprach später von revolutionärer Atmosphäre. Der Justizpalastbrand hat bis in die 1970er Jahre viele ÖsterreicherInnen geprägt. In „Die Fackel im Ohr“ berichtet Canetti von seinen Eindrücken inmitten der Proteste:


„Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.“ Die Menschenmenge, die „Masse“, ist hier nichts, gegen das sich Canetti sträubt oder gar wehrt. Er geht in diesem Moment ganz in ihr auf. Jegliche Individualität verliert sich in ihr: „Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Sie ist absolut und indiskutabel und wird von der Masse selbst nie in Frage gestellt. Sie ist von so fundamentaler Wichtigkeit, daß man den Zustand der Masse geradezu als einen Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte.“[23]

Das starke Gefühl von nationaler Einheit bei Massenveranstaltungen hat auch Bundeskanzler Engelbert Dollfuß verstanden. Er führte die Regierung ab Mai 1932 und nutzte eine Geschäftsordnungskrise im Nationalrat dafür, die Macht durch Noterlasse an sich zu reißen und ein faschistisches System aufzubauen. Im Mai 1934 trat die neue ständische Verfassung des neuen „christlichen, deutschen“ Ständestaats in Kraft. Dollfuß wurde bei einem Putschversuch der Nationalsozialisten im Juli getötet und erlangte Märtyrerstatus, der bis in die Zweite Republik für Konflikte zwischen Konservativen und Sozialdemokraten sorgte. Das Dollfußlied wurde zu einer Art zweiten Nationalhymne. Der errinnerungspolitische Umgang mit Dollfuß, vor allem seitens der Konservativen, hat in der Zweiten Republik oft hohe Wellen geschlagen. Erst vor wenigen Wochen hat es wieder eine Debatte zum Dollfuß-Museum im Geburtsort des ehemaligen Politikers gegeben. [24]

Gehören im Falls Österreichs also auch die kollektiven Gedächtnislücken zum Nationalverständnis? In einer Analyse von Kurt Luger heißt es: „Das nationale Gedächtnis (…) ist nur in symbolischer Form denkbar, weil zwischen den historischen Ereignissen und dem Alltagsleben eine Distanz besteht, die nur über die symbolische Re-Inszenierung überbrückt werden kann.“[25] „Kollektive Gedächtnisse“, so steht weiter, sind „kollektiv geteiltes Wissen über die Vergangenheit und enthalten gemeinsame reale Erfahrungen, auf die eine Gruppe ihr Bewusstsein von Eigenart und Einheit stützt.“[26] Die Mittel der Nationenbildung sind also auf gemeinsame Narrative gebettet, auf selbstgeschriebene Drehbücher. Die Gedächtnislücken können sich nicht nur auf Zeiträume oder einzelne Personen beziehen, sondern sie betreffen auch ganze Gruppen. Wir erleben das in Österreich vor allem beim Thema Einwanderung. Die enormen Einflüsse der MigrantInnen aus dem Donauraum, aber auch darüber hinaus werden bis heute oft vernachlässigt, wenn über das Selbstverständnis und die Identität Österreichs gesprochen wird. Nicht selten sehen KritikerInnen in der sogenannten Ausländerfeindlichkeit eine typisch österreichische Eigenschaft. 


In der psychologischen Identitätsarbeit ist es für die stabile Identität eines Menschen wichtig,  Nichtübereinstimmungen von Selbst und Fremdbewertungen zu bewältigen. Das heißt, es kommt dabei zu einem „permanenten Aushandeln der Differenzen“. Es geht dabei aber nicht um die vollkommene Lösung von Konflikten, sondern um einen subjektiven Zustand der Ambiguität (Widersprüchlichkeit).[27] Die Herausbildung on Identität wird „als Passungsprozeß an der Schnittstelle von Innen und Außen“ verstanden.[28] Auch Österreich durchlebt immer wieder Phasen der Identitätskonstruktion. „Wer gehört zur Nation und wer nicht?“ bildet nach wie vor eine zentrale Frage im Integrationsdiskurs. Die Schattenseiten der Identitätssuche zeigte Edith Meinhart in ihrem profil-Artikel Ende des Jahres auf. Unter dem Titel „Wir-Versuche: Über das brandgefährliche Konzept der Identität“ erörtert sie Probleme von kollektiven „Vollidentitäten“, die andere ausschließen und somit zu Konflikten bis hin zu Kriegen führen würden.[29]„100-Prozent-Identitäten sind begehrte Zufluchten in Zeiten des Umbruchs, denn sie wölben sich wie ein großes, schützendes Zelt über ein Kollektiv, um eine Metapher des türkisch-amerikanischen Psychoanalytikers Vamik Volkan aufzugreifen. Ein einziges Merkmal entscheidet oft darüber, ob man mit Haut und Haar unter dieses Zelt schlüpfen darf oder eben ganz und gar nicht dazugehört. Widersprüche, Verwirrung, Verunsicherung haben in dieser Versuchsanordnung keinen Platz.“[30] Doch gerade die Freiheit zur Konstruktion eigener Identitäten also die Freiheit des Zaudern, Zweifeln und Aushandelns sollten in unserer heutigen Gesellschaft Platz bekommen. 

 

Fazit

Kehren wir zum Abschluss nochmal an den Anfang zurück, zu unserem Bild von Österreich als Insel der Seligen. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann wurde einmal anlässlich des Nationalfeiertages am 26. Oktober gefragt, was es bedeute, wenn sich ein Binnenstaat als Insel sieht. Seine Antwort möchte ich kurz vorlesen: „Es ist eine Metapher der Unberührtheit, die das Gefühl stärkt, dass man sich seine insulare Selbstgenügsamkeit und Selbstbezüglichkeit leisten kann. Das wurde zwar ökonomisch im Zuge der EU-Integration aufgebrochen. Es ist klar, dass wir genauso den Prozessen der Globalisierung unterliegen. Aber kulturell und intellektuell blieb dieser Bezug ganz zentral in Österreich. Österreichische Intellektuelle dachten lange bevorzugt darüber nach, was es heißt, Österreicher zu sein. Dieses permanente Auf-sich-selbst-konzentriert-Sein war das Kennzeichen einer geistigen Isolation, die erst aufgebrochen werden musste.“[31]


Ich möchte den heutigen Vortrag daher als Auftrag sehen, diese geistige Isolation etwas zu durchbrechen, und Sie herzlich dazu einladen, darüber zu diskutieren, wie wir Geschichte benutzen, um unsere Existenz zu rechtfertigen. Denn wenn wir uns andere Nationalstaaten ansehen, hat das Verschwimmen von Mythos und Realität nichts typisch Österreichisches. Jede Nation hat verschiedene Erzählungen. Interessant ist es aber, zu beobachten, zu welchen Zeiten diese unterschiedlichen Erzählungen von der Politik wiederbelebt werden. In Krisenzeiten etwa, wenn es um militärische Konflikte zwischen West und Ost geht, pocht Österreich gern auf seine Neutralität. Die ÖsterreicherInnen präsentieren sich dann gerne als friedliebende MitteleuropäerInnen, die sich nicht in Konflikte einmischen. Auch das Szenario, dass die Insel der Seligen bedroht sein könnte, etwa durch die Globalisierung oder die Erzählung, dass Österreich nur mehr ein kleines mitteleuropäisches Land inmitten größerer Mächte ist, trägt nach wie vor zum Selbstverständnis der Insel bei. Die zweite Frage ist, wer die Frage nach der Nation stellt.  Populistische PolitikerInnen und Boulevardmedien unterstützen uns täglich bei der Suche nach uns selbst. Selbst wenn niemand diese Nation ganz zu fassen vermag –das reichweitenstärkste Tagesmedium, die „Kronenzeitung“, versucht es Tag für Tag. Sie ist auch heute noch ein wichtiger identitätsstiftender Faktor für viele ÖsterreicherInnen. Ihr vermitteltes Bild Österreichs in der Welt prägen mehrere Generationen. Was wichtig ist, finden wir Tag für Tag auf diesen wenigen, bebilderten Seiten. Wir brauchen keine Essays und wissenschaftlichen Abhandlungen für Definitionen. Wir haben den Sportteil, das Lokalressort und die sichere Gewissheit, dass es Österreich gibt, solange uns jeden Morgen am Frühstückstisch die Zeitung der Nation daran erinnert, wer und was wir (nicht) sind. 


Ich hoffe, diese kurze Reise durch die österreichischen (Sur-)Realitäten hat Ihnen gefallen, und Sie wissen jetzt, warum aus meiner Sicht eine genaue Definition der ÖsterreicherInnen scheitern muss und soll. Viel spannender als die Definition, finde ich ohnehin die Frage, wer die Nation gerade definiert und weshalb. Zuallererst freue ich mich aber auf Ihre Fragen. Vielen Dank!

 

                                                                                                                               

 

 

 

 



[1] 99 Dokumente, Österreichisches Staatsarchiv, online: https://oe99.staatsarchiv.at/20-jh/insel-der-seligen/#c1540, zuletzt eingesehen, am 2.3.2022.

 

[2] Alfred Pfoser, Andreas Weigl, Die erste Stunde Null: Gründungsjahre der österreichischen Republik, Residenz Verlag: Wien 2017, 212.

[3] Die erste Stunde Null, 135ff.

[4] Vgl. Franzt Schausberger, Föderalismus,in: 100xÖsterreich: Neue Essays aus Literatur und Wissenschaft, hrsg.v. Monika Sommer, Heidemarie Uhl und Klaus Zeyringer,  Kremayr & Scheriau 2018, 80-84.

[5] Vgl. Robert Menasse, Land ohne Eigenschaften. 3. Aufl. Wien 1993, 61.

[7] Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. 1983, (dt. zuerst u.d.T.. Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main 1988).

[8] Nora Räthzel, Gegenbilder. Nationale Identität durch Konstruktion des Anderen. Wiesbaden 1997.

[10] Adolf Loos, Ornament und Verbrechen (1909). In: Adolf Loos. Sämtliche Schriften, hrsg. v. Franz Glück, Bd.1, Wien 1962.

[11] Ornament und Verbrechen, 16.

[12] Burkhardt Rukschcio, Roland Schachel, Adolf Loos Leben und Werk. Residenz, Salzburg/Wien 1982, 223.

[13] Jeges, Oliver: Österreichs neues Seelenheil, online: http://jungle-world.com/artikel/2014/38/50597.html, zuletzt eingesehen am 2.3.2022.

[14] Robert Menasse, Land ohne Eigenschaften: Essay zur österreichischen Identität. Suhrkamp 1995, 18.

[15] Vgl. ebda.

[16] Ernst Kieninger, Nikola Langreiter, 1. April 2000. Filmarchiv Österreich: Wien 2000.

[17] Vgl. „Grazer Historiker untersuchte Rolle des Skisports“, kleinezeitung.at, online: http://www.kleinezeitung.at/steiermark/graz/graz/3524979/grazer-historiker-untersuchte-rolle-des-skisports.story (Artikel über die Dissertation:"Alpiner Skisport und die Erfindung der österreichischen Nation 1945 - 1964"), zuletzt eingesehen, am 31.12.2014.

[18] Gegenbilder, 1997.

[19]  Stefan May,Der gesprengte „Völkerkerker“, Deutschlandfunk Kultur, 31.10.2018, online: 

https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-k-u-k-monarchie-eine-fruehe-eu-der-gesprengte-100.html, zuletzt eingesehen am 2.3.2022.

[20] ebda

 

[21] Kurt Luger, Populärkultur und Identität. Symbolische Ordnungskämpfe im Österreich der Zweiten Republik. Salzburg 1998.

 

[22] Heinz Fischer, Andreas Huber, Stephan Neuhäuser (Hg.), 100 Jahre Republik. Meilensteine und Wendepunkte in Österreich 1918–2018. Czernin: Wien 2018, 60ff.

[23] Stefan Jäger, Elias Canetti in Wien. Der Justizpalastbrand und das Feuer als Symbol der Masse, online: https://literaturkritik.de/id/19584, zuletzt eingesehen am 2.3.2022.

[24] Lara Hagen, Colette M. Schmidt, Dollfuß-Museum in Gemeinde des Innenministers soll überarbeitet werden, Der Standard, 7.12.2021, online: https://www.derstandard.at/story/2000131717741/dollfuss-museum-in-gemeinde-des-innenministers-soll-ueberarbeitet-werden, zuletzt eingesehen am 2.3.2022.

[25] Luger, Kurt: Populärkultur und Identität. Symbolische Ordnungskämpfe im Österreich der Zweiten Republik. Salzburg 1998. Teilweise einsehbar unter http://www.uni-salzburg.at/fileadmin/oracle_file_imports/1181251.PDF, zuletzt eingesehen, am 29.12.2014.

[26] Ebda.

[27] Vgl. Heiner Keupp (et al): Identitätskonstruktionen: Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Hamburg 2002,197.

[28] Identitätskonstruktionen, 191.

[29] Edith Meinhart, Wir-Versuche: Über das brandgefährliche Konzept der Identität, in: Profil (12/2014), http://www.profil.at/articles/1453/980/378762/wir-versuche-ueber-konzept-identitaet?utm_source=Newsletter&utm_medium=E-Mail&utm_campaign=profil.at-NL, zuletzt eingesehen am 31.12.2014.

[30] Ebda.

[31] Eric Frey, Philosoph Liessmann: "Mythos von Insel der Seligen ist eine Selbsttäuschung", Der Standard, 26.10.2020, online: https://www.derstandard.at/story/2000121170861/philosoph-liessmann-mythos-von-insel-der-seligen-ist-eine-selbsttaeuschung, zuletzt eingesehen am 2.3.2022.

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